Was ist eine Nation?
Vortrag in der Sorbonne am 11. März 1882 von ERNEST RENAN
Ich möchte mit Ihnen gemeinsam eine Idee untersuchen, die obwohl sie dem Anschein nach klar zu sein scheint, zu den gefährlichsten Mißverständnissen Anlaß gibt. Die menschliche Gesellschaft hat die verschiedensten Formen. Die großen Ansammlungen von Menschen wie in China, Ägypten, dem ältesten Babylonien; die Stadt nach Art der Athener und Spartas; die Vereinigungen verschiedener Länder nach Art des Karolingischen Reiches; die Gemeinschaften ohne Vaterland, die vom Band der Religionen zusammengehalten werden, wie die Israeliten; die Nationen wie Frankreich, England und die meisten autonomen Staaten des modernen Europa; die Konföderationen von der Art der Schweiz, Amerikas; die Verwandtschaftsbeziehungen, welche die Rasse oder, besser, die Sprache zwischen den verschiedenen Zweigen der Germanen, der Slawen schafft - alle diese Formen des Gruppenlebens gibt es oder hat es jedenfalls gegeben. Man sollte sie nicht miteinander verwechseln, wenn man sich nicht das größte Ungemach einhandeln will. Zur Zeit der Französischen Revolution glaubte man, daß sich die Institutionen der kleinen unabhängigen Städte auf unsere großen Nationen von dreißig bis vierzig Millionen Menschen übertragen ließen. Heute begeht man einen noch schwerer wiegenden Fehler: Man verwechselt die Rasse mit der Nation und spricht den ethnischen oder besser den sprachlichen Gruppen eine Souveränität nach dem Muster der wirklich existierenden Völker zu. Versuchen wir also, über diese schwierigen Fragen nachzudenken, bei denen die geringste Unklarheit über den Sinn der Worte am Ende zu den verhängnisvollsten Irrtümern führen kann. Was wir vorhaben, ist delikat. Es kommt fast einer Vivisektion gleich; wir behandeln die Lebenden dabei so, wie man gewöhnlich die Toten behandelt. Wir werden mit Kälte, mit absoluter Unparteilichkeit an die Sache herangehen.
I.
Seit dem Ende des Römischen Reiches oder besser seit der Verlagerung des Reiches von Karl dem Großen erscheint uns das abendländische Europa in Nationen geteilt, von denen einige, in bestimmten Epochen, eine Vorherrschaft über die anderen auszuüben suchten, ohne daß ihnen dies je dauerhaft gelang. Was Karl V., Ludwig XIV., Napoleon I. nicht vermochten, wird wahrscheinlich auch in Zukunft niemand fertigbringen. Ein neues Römisches Reich oder ein neues Karolingisches Reich zu errichten ist unmöglich geworden. Die Teilung Europas geht zu tief, als daß nicht der Versuch, eine umfassende Herrschaft zu errichten sehr schnell eine Koalition auf den Plan riefe, die die ehrgeizige Nation in ihre Grenzen zurückweisen würde. Für lange Zeit ist eine Art Gleichgewicht entstanden. Frankreich, England, Deutschland, Rußland wird es noch in Jahrhunderten geben, und trotz der Abenteuer, auf welche sie sich eingelassen haben, werden die historischen Individuen, die entscheidenden Figuren eines Schachspiels, dessen Felder unausgesetzt ihre Bedeutung und ihre Größe verändern, nie ganz und gar miteinander verschmelzen. Die so verstandenen Nationen sind in der Geschichte etwas ziemlich Neues. Das Altertum kennt sie nicht: Ägypten, China, das alte Chaldäa waren nicht im geringsten Nationen. Es waren Horden, angeführt von einem Sohn der Sonne oder einem Sohn des Himmels. Es gab keine ägyptischen Staatsbürger, ebensowenig wie es chinesische Staatsbürger gab. Das klassische Altertum kannte Republiken und Stadtkönigtümer, Konföderationen lokaler Republiken, Reiche: die Nation in unserem Sinne kannte es nicht. Athen, Sparta, Sidon sind Zentren von bewunderungswürdigem Patriotismus, doch mit ziemlich kleinem Territorium. Bevor Gallien, Spanien, Italien vom römischen Imperium aufgesogen wurden, waren sie Ansammlungen von Völkerschaften, die häufig miteinander verbündet waren, aber ohne zentrale Institution, ohne Dynastien. Auch das Assyrische Reich, das Persische Reich, das Reich Alexanders waren keine Vaterländer. Es hat niemals assyrische Patrioten gegeben, und das Persische Reich war ein riesiges Feudalwesen. Keine Nation führt ihren Ursprung auf das kolossale Abenteuer Alexanders zurück, obwohl es für die Geschichte der Zivilisation so ungemein folgenreich war.
Schon viel eher war das Römische Reich ein Vaterland. Für die ungeheure Wohltat des Rückgangs der Kriege wurde das anfangs so drückende römische Imperium alsbald geliebt. Es war eine große Assoziation - gleichbedeutend mit Ordnung - des Friedens und der Zivilisation. In den letzten Zeiten des Reiches gab es bei hochgestimmten Seelen, bei den aufgeklärten Bischöfen, bei den Gebildeten das echte Gefühl einer "pax romana" im Gegensatz zum drohenden Chaos der Barbarei. Doch das Reich, das zwölfmal so groß war wie das heutige Frankreich, sollte keinen Staat im modernen Sinne bilden. Die Spaltung des Westens und des Ostens war unvermeidlich. Im 3. Jahrhundert scheiterten die Ansätze zu einem Gallischen Reich. Erst die germanische Invasion brachte das Prinzip, das später die Grundlage der Nationalitäten wurde.
Was also taten die germanischen Völker vor ihren großen Invasionen im 5. bis zu den letzten normannischen Eroberungen im 10. Jahrhundert? Den Kern der Rassen veränderten sie kaum, aber mehr oder weniger großen Teilen des alten Westreiches erlegten sie Dynastien und einen Militäradel auf, und diese Teile des Reiches trugen fortan die Namen der Eindringlinge. Daher Frankreich, Burgund, Lombardei. Die rasche Übermacht, die das Frankenreich gewann, stellte für einen Augenblick die Einheit des Abendlandes wieder her. Doch unwiderruflich zerfiel dieses Reich um die Mitte des 9. Jahrhunderts. Der Vertrag von Verdun zeichnet die letztlich unabänderlichen Grenzen vor, und seitdem sind Frankreich, Deutschland, England, Italien, Spanien auf vielen Umwegen und unter unzähligen Abenteuern zu ihre vollen nationalen Existenz aufgebrochen, wie wir sie heute vor uns haben. Was macht nun wirklich diese verschiedenen Staaten aus? Es ist die Verschmelzung de Bevölkerungen, die sie bewohnen. In den genannten Ländern entspricht nichts dem, was man in der Türkei findet, wo der Türke, der Slawe, der Grieche, der Armenier, der Araber, der Syrer, der Kurde auch heute noch so verschieden sind wie am Tag der Eroberung. Zwei wesentliche Umstände haben dazu beigetragen. Zunächst einmal heben die germanischen Völker das Christentum angenommen, sobald sie in dauerhaftere Berührung mit den griechischen und lateinischen Völkern kamen. Wenn Sieger und Besiegte derselben Religion angehören oder besser: wenn der Sieger die Religion des Besiegten annimmt, dann ist das türkische System, die absolute Scheidung der Menschen nach ihrer Religion, nicht mehr möglich. Der zweite Umstand war, daß die Eroberer ihre eigene Sprache vergaßen. Die Enkel von Chlodwig, Alarich, Albuin, Rollon sprachen bereits römisch. Dies wiederum war die Folge einer anderen wichtigen Besonderheit, daß nämlich Franken, Burgunder, Goten, Lombarden und Normannen nur sehr wenige Frauen ihrer Rasse bei sich hatten. Über mehrere Generationen heirateten die Anführer germanische Frauen; aber ihre Konkubinen waren lateinisch, ebenso die Ammen ihrer Kinder. Der ganze Stamm heiratete lateinische Frauen. Das führte dazu, daß die "lingua franca", die "lingua gotica" seit der Niederlassung der Franken und Goten auf römischem Boden nur noch ein kurzes Leben hatten. In England war es anders. Denn die angelsächsischen Eroberer hatten zweifellos Frauen bei sich, und die britannische Bevölkerung floh. Im übrigen war das Lateinische in Britannien nicht mehr dominierend oder war es überhaupt nie gewesen. Wenn in Gallien im 5. Jahrhundert allgemein gallisch gesprochen worden wäre, so hätten Chlodwig und seine Leute das Germanische nicht für das Gallische aufgegeben.
So kam es zu dem kapitalen Resultat, daß die germanischen Eroberer trotz der äußersten Roheit ihrer Sitten die Form prägten, die im Laufe der Jahrhunderte zur eigentlichen Form der Nation wurde. "Frankreich" wurde legitimerweise der Name eines Landes, in das nur eine kaum wahrnehmbare Minderheit von Franken eingedrungen war. Im 10. Jahrhundert sind in den ersten "Chansons de gestes", sei ein so vollkommener Spiegel des Geistes ihrer Zeit sind, alle Bewohner Frankreichs Franzosen. Die Vorstellung eines Rassenunterschiedes in der Bevölkerung Frankreichs, die bei Gregor von Tours so auffällig ist, ist bei den französischen Schriftstellern und Dichtern nach den "Chansons de gestes" nicht im geringsten zu bemerken. Der Unterschied des Adligen und des Nichtadligen wird so stark betont wie nur irgend möglich, doch dieser Unterschied ist in keiner Hinsicht ein ethnischer. Vielmehr ist es ein Unterschied des Mutes, der vererbten Erziehung. Auf die Idee, daß am Ursprung von all dem eine Eroberung steht, kommt niemand. Die falsche Vorstellung, der Adel verdanke seine Entstehung einem vom König verliehenen Privileg für der Nation geleistete große Dienste und jeder Adlige sei auch ein Geadelter, wird als Dogma erst seit dem 13. Jahrhundert eingeführt. Genauso verlief es nach fast allen normannischen Eroberungen. Eine oder zwei Generation später unterschieden sich die normannischen Eindringlinge nicht mehr von der übrigen Bevölkerung. Nichtsdestoweniger war ihr Einfluß groß: Sie hatten dem eroberten Land einen Adel, militärische Gewohnheiten und einen Patriotismus gegeben, die vordem nicht vorhanden waren.
Das Vergessen - ich möchte fast sagen: der historische Irrtum - spielt bei der Erschaffung einer Nation eine wesentliche Rolle, und daher ist der Fortschritt der historischen Studien oft eine Gefahr für die Nation. Die historische Forschung zieht in der Tat die gewaltsamen Vorgänge ans Licht, die sich am Ursprung aller politischen Gebilde, selbst jener mit den wohltätigsten Folgen, ereignet haben. Die Vereinigung vollzieht sich immer auf brutale Weise. Die Vereinigung Nord- und Südfrankreichs ist das Ergebnis von fast einem Jahrhundert Ausrottung und Terror gewesen. Der König von Frankreich, der, wenn ich das sagen darf, das Musterbild eines säkularen Kristallisators ist, der König von Frankreich, der die vollkommenste nationale Einheit vollbracht hat, die es überhaupt gibt - verliert, von nahem besehen, seinen Nimbus. Die von ihm geformte Nation hat ihn verflucht, und jetzt wissen nur noch ein paar Gebildete, was er galt und was er getan hat.
Die großen Gesetze der abendländischen Geschichte werden durch den Kontrast sinnfällig. Bei dem Vorhaben, das der König von Frankreich teils durch seine Tyrannei, teils durch seine Gerechtigkeit auf so bewundernswürdige Weise vollendete, sind viele Länder gescheitert. Unter der Stephanskrone sind Ungarn und Slawen so verschieden geblieben, wie sei es vor achthundert Jahren waren. Anstatt sei verschiedenen Elemente seiner Herrschaft zu verschmelzen, hat das Haus Habsburg sie getrennt gehalten und oft genug in Gegensatz zueinander gebracht. In Böhmen liegen das tschechische und das deutsche Element wie Öl und Wasser in einem Glas übereinander. Die türkische Politik der Trennung der Nationalitäten nach der Religion hat noch gravierendere Folgen gehabt: Sie hat zum Niedergang des Orients geführt. In einer Stadt wie Saloniki oder Smyrna findet man fünf oder sechs Gemeinden, deren jede ihre eigenen Erinnerungen hat und die miteinander so gut wie nichts gemein haben. Es macht jedoch das Wesen einer Nation aus, daß alle Individuen etwas miteinander gemein haben, auch, daß sie viele Dinge vergessen haben. Kein Franzose weiß, ob er Burgunder, Alane, Wisigote ist, und jeder Franzose muß die Bartholomäusnacht und die Massaker des 13. Jahrhunderts im Süden vergessen haben. Es gibt in Frankreich keine zehn Familien, die ihre fränkische Herkunft beweisen können, und auch wenn sie es können, ist ein solcher Beweis unvollständig wegen der vielen unbekannten Kreuzungen, die jedes geneologische System durcheinanderbringen.
Die moderne Nation ist demnach das historische Ergebnis einer Reihe von Tatsachen, die dieselbe Richtung hat. Bald wurde die Einheit durch eine Dynastie verwirklicht, wie im Falle Frankreichs; bald durch den unmittelbaren Willen der Provinzen, wie im Falle Hollands, der Schweiz und Belgiens; bald durch einen allgemeinen Geist, der spät über die Launen des Feudalwesens triumphiert, wie im Falle Italiens und Deutschlands. Jedesmal haben diese Bildungen einen tiefliegenden Grund. Die Prinzipien brechen sich Bahn durch die ungeahntesten Überraschungen. In unserer Zeit haben wir gesehen, wie Italien durch seine Niederlagen geeint und die Türkei durch ihre Siege zerstört wurde. Jede Niederlage kam der Sache Italiens zugute. Jeder Sieg richtete die Türkei zugrunde. Denn Italien ist eine Nation, und die Türkei ist es, abgesehen von Kleinasien, nicht. Es ist der Ruhm Frankreichs, durch die Französische Revolution verkündet zu haben, daß eine Nation aus sich selbst existiert. Wir dürfen es also nicht mißbilligen, wenn man uns nachahmt. Das Prinzip der Nationen ist unser. Doch was ist eine Nation? Warum ist Holland eine Nation, während Hannover oder das Großherzogtum Parma es nicht sind? Wie kommt es, daß Frankreich weiter eine Nation bleibt, auch wenn das Prinzip, durch das es geschaffen wurde, verschwunden ist? Wie kommt es, daß die Schweiz mit drei Sprachen, zwei Religionen, drei oder vier Rassen eine Nation ist, während beispielsweise die so homogene Toskana keine ist? Warum ist Österreich ein Staat, aber keine Nation? Worin unterscheidet sich das Nationalitätenprinzip von dem der Rasse? All diese Fragen halten einen Nachdenklichen dazu an, sich mit sich selbst in Einklang zu bringen. Das Weltgeschehen richtet sich kaum nach solchen Erwägungen, doch die Eifrigen wollen in diese Dinge, in denen die Oberflächlichen sich verlieren, etwas Ordnung bringen und sie entwirren.
II.
Folgt man gewissen Theoretikern der Politik, so ist die Nation vor allem anderen eine Dynastie, die eine alte Eroberung repräsentiert, mit der die Masse der Bevölkerung sich zunächst abgefunden und die sie dann vergessen hat. Den Politikern zufolge, von denen ich rede, hat die von einer Dynastie, durch ihre Kriege, ihre Heiraten, ihre Verträge herbeigeführte Zusammenfassung von Provinzen mit de Dynastie, die sie gebildet hat, auch ein Ende. Es stimmt, daß die meisten modernen Nationen von einer Familie feudalen Ursprungs geschaffen wurden, die sich mit dem Boden vermählt hat und gewissermaßen ein Zentralisationskern gewesen ist. 1789 hatten die Grenzen Frankreichs nichts Natürliches oder Notwendiges. Das große Stück, das das Haus der Kapentinger dem schmalen Saum des Vertrages von Verdun hinzugefügt hatte, war durchaus eine persönliche Erwerbung dieses Hauses. Als diese Annexionen gemacht wurden, dachte man weder an natürliche Grenzen noch ans Völkerrecht noch an die Wünsche der Provinzen. Ebenso war auch die Vereinigung von England, Irland und Schottland ein dynastischer Vorgang. Und Italien hat nur so lange gebraucht, eine Nation zu werden, weil keines seiner vielen regierenden Häuser sich vor unserem Jahrhundert zum Zentrum der Einheit gemacht hat. Merkwürdig genug, verdankt Italien seinen königlichen Titel der bedeutungslosen Insel Sardinien, die kaum italienisch genannt werden kann. Holland, das sich in einem Akt heldenhafter Entschlossenheit selbst schuf, ist ungeachtet dessen ein inniges Heiratsbündnis mit dem Hause Oranien eingegangen und war in dem Augenblick höchst gefährdet, in dem dieses Bündnis gefährdet war.
Aber gilt ein solches Gesetz unbedingt? Sicherlich nicht. Die Schweiz und die Vereinigten Staate, die sich wie Konglomerate aus aufeinander folgenden Hinzufügungen bildeten, hatten keine dynastische Grundlage, Für Frankreich möchte ich die Frage nicht erörtern. Man müßte das Arkanum der Zukunft kennen. Nur so viel sei gesagt, daß das große französische Königshaus so betont national war, daß die Nation sich, am Tage nach dem Sturz, ohne letzteres halten konnte. Außerdem hatte das 18. Jahrhundert alles verändert. Nach Jahrhunderten der Erniedrigung war der Mensch zum Geist der Antike zurückgekehrt, zur Adelung seiner selbst, zur Idee seiner Rechte. Die Worte "Vaterland" und "Staatsbürger" hatten wieder Sinn. So war es möglich geworden, das Kühnste zu unternehmen, woran man sich in der Geschichte jemals versucht hat, vergleichbar dem Versuch, einen Körper in seiner ursprünglichen Identität lebendig zu erhalten, nachdem man ihm Gehirn und Herz entnommen hat.
Man muß also einräumen, daß eine Nation ohne dynastisches Prinzip existieren kann, und sogar, daß Nationen, die von einer Dynastie geformt wurden, sich von ihr trennen können, ohne daß sie damit aufhören zu existieren. Das alte Prinzip, das nur das Recht der Fürsten berücksichtigt, soll nicht mehr gelten: Jenseits des dynastischen Rechts gibt es das Völkerrecht. Auf welches Kriterium ist es zu gründen, an welchem Zeichen zu erkennen, von welcher handgreiflichen Tatsache abzuleiten?
- Von der Rasse, sagen viele mit Nachdruck. Die künstlichen Unterteilungen, die aus dem Feudalwesen, aus fürstlichen Eheverbindungen, von Diplomatenkongressen herstammen, sind hinfällig geworden. Doch fest und unverrückbar bleibe die Rasse der Bevölkerung. Diese also begründe ein Recht, eine Legitimität. Nach der Theorie, die ich hier darlege, hat beispielsweise die germanische Familie das Recht, die verstreuten Glieder des Germanentums wieder einzusammeln, auch wenn diese sich mit ihr nicht wieder verbinden wollen. Das Recht des Germanentums über eine solche Provinz ist stärker als das Recht der Einwohner dieser Provinz über sich selbst. Auf diese Weise wird eine Art Urrecht nach dem Muster der Könige göttlichen Rechts geschaffen. An die Stelle des Prinzips der Nationen setzt man das der Ethnographie. Es handelt sich dabei um einen schwerwiegenden Irrtum.
Würde er vorherrschend, richtete er die europäische Zivilisation zugrunde. Während das Prinzip der Nationen gerecht und legitim ist, ist das Urrecht der Rassen eng und voller Gefahren für den wahrhaften Fortschritt.
Im Stamm und in der Stadt er Antike besaß die Rasse, wie wir einräumen, eine Wichtigkeit ersten Ranges. Stamm und Stadt der Antike waren nur eine Erweiterung der Familie. In Sparta, in Athen waren alle Bürger mehr oder weniger eng miteinander verwandt. Genauso war es auch bei den Israeliten, und so ist es noch heute bei den arabischen Stämmen. Versetzen wir uns von Athen, von Sparta, vom Stamm er Israeliten ins Römische Reich. Die Situation ist eine ganz andere. Zunächst von der Gewalt geformt, dann von Interessen zusammengehalten, fügt diese Ansammlung von absolut verschiedenen Städten und Provinzen der Idee der Rasse den schwersten Schlag zu. Das Christentum mit seinem uneingeschränkten Universalismus wirkt noch nachdrücklicher in dieselbe Richtung. Es geht mit dem Römischen Reich ein enges Bündnis ein, und durch diese beiden unvergleichbaren Kräfte der Vereinigung wird die ethnographische Vernunft von der Regierung der menschlichen Dinge für Jahrhunderte ferngehalten.
Entgegen allem Anschein war der Einfall der Barbaren ein weiterer Schritt auf diesem Wege. Die Einschnitte der barbarischen Reiche haben nichts Ethnographisches; sie sind abhängig von der Stärke oder der Laune der Eindringlinge. Die Rasse der von Ihnen unterworfenen Bevölkerung war für sie die gleichgültigste Sache von der Welt. Karl der Große schuf auf seine Weise noch einmal, was Rom bereits geschaffen hatte: ein einziges, aus den verschiedensten Rassen zusammengesetzes Reich. Die Schöpfer des Vertrages von Verdun. die unbeirrt ihre beiden langen Linien von Norden nach Süden zogen, machten sich nicht den geringsten Gedanken über die Rasse der Menschen links und rechts davon. Auch im weiteren Mittelalter waren die Grenzverschiebungen genauso frei von jeder ethnographischen Tendenz. Wenn die von den Kapetingern verfolgte Politik die Territorien des alten Gallien schließlich unter dem Namen Frankreichs einigermaßen zusammenführte, so ist dies nicht die Folge einer Tendenz dieser Länder, sich mit ihren Stammesgenossen zu verbinden. Die Dauphiné, die Bresse, die Provence, die Franche-Comté erinnerten sich keines gemeinsamen Ursprungs mehr. Seit dem 2. Jahrhundert u. Z. war alles gallische Bewußtsein vergangen, und erst aufgrund einer gebildeten Anschauung hat man in unseren Tagen rückblickend die Individualität des gallischen Charakters wiederentdeckt. Die ethnographische Betrachtungsweise war also bei der Herausbildung der modernen Nationen nicht bedeutungslos. Frankreich ist keltisch, iberisch, germanisch. Deutschland ist germanisch, keltisch und slawisch. Italien ist das Land mit der verwirrendsten Ethnographie. Gallier, Etrusker, Pelasger, Griechen, nicht zu reden von einer Reihe anderer Elemente, kreuzen sich dort zu einem unentwirrbaren Geflecht. Die Britischen Inseln zeigen in ihrer Gesamtheit eine Mischung von keltischem und germanischem Blut, dessen Anteile ungeheuer schwer zu bestimmen sind.
Die Wahrheit ist, daß es keine reine Rasse gibt und daß man die Politik auf eine Chimäre bezieht, wenn man sie auf die ethnographische Analyse gründet. Die edelsten sind jene Länder - England, Frankreich, Italien - , bei denen das Blut am stärksten gemischt ist. Ist Deutschland in dieser Hinsicht eine Ausnahme? Ist es ein rein germanisches Land? Welche Illusion! Der ganze Süden war gallisch, der ganze Osten, von der Elbe an, ist slawisch. Und sind die Teile, die angeblich rein sind, es wirklich? Wir rühren hier an eines jener Probleme, über die man sich unbedingt klare Vorstellungen bilden und bei denen man Mißverständnissen vorbeugen muß.
Die Diskussion über Rassen ist endlos, denn das Wort "Rasse" hat für den Historiker und Philologen eine ganz andere Bedeutung als für den Physio-Anthropologen. Für den Anthropologen bedeutet Rasse dasselbe wie in der Zoologie; sie bezeichnet eine wirkliche Abstammung, eine Blutsverwandtschaft. Das Studium der Sprachen und der Geschichte führt nicht zu denselben Einteilungen wie die Physiologie. Die Worte "Brachykephalen" und "Dolichokephalen" haben weder in der Historie noch in der Philologie einen Platz. Schon in jener Menschengruppe, die die arische Sprache und Disziplin schuf, gab es Kurz- und Langschädlige. Dasselbe gilt von der ursprünglichen Gruppe, welche die Sprachen und Institutionen schuf, die man semitisch nennt. Mit anderen Worten, die zoologischen Ursprünge der Menschheit haben einen enormen Vorsprung vor den Anfängen der Kultur, der Zivilisation, der Sprache. Die ursprünglich arische, semitische, turanische Gruppe war keine physiologische Einheit. Diese Gruppenbildungen sind historische Tatsachen einer bestimmten Epoche, sagen wir vor fünfzehn- oder zwanzigtausend Jahren, während sich der zoologische Anfang der Menschheit im unfaßbaren Dunkel verliert. Was man philologisch und historisch die germanische Rasse nennt, ist innerhalb der menschlichen Spezies gewiß eine Familie für sich. Aber ist sie eine Familie im anthropologischen Sinn? Sicherlich nicht. Die germanische Individualität erscheint in der Geschichte erst wenige Jahrhunderte vor Christus. Offensichtlich sind die Germanen damals nicht aus der Erde gestiegen, aber vorher, als sie mit den Slawen in der großen unterschiedslosen Masse der Skythen aufgingen, besaßen sie keine Individualität für sich. Ein Engländer ist im ganzen der Menschheit ein eigener Typus. Doch der Typus dessen, was man sehr unpassend die angelsächsische Rasse nennt, entspricht weder dem Bretonen der Zeit Cäsars noch dem Angelsachsen des "Hengist" noch dem Dänen der Zeit Knuts oder dem Normannen Wilhelm des Eroberers: Es ist die Resultante aus all dem. Der Franzose ist weder Gallier noch Franke noch Burgunder. Er ist aus dem großen Brutkasten hervorgegangen, in dem, unter dem Vorsitz des Königs von Frankreich, die verschiedensten Elemente gärten. Ein Bewohner von Jersey oder Guernsey unterscheidet sich seiner Herkunft nach in nichts von der benachbarten normannischen Bevölkerung. Im 11. Jahrhundert hätte das schärfste Auge auf beiden Seiten des Kanals nicht den geringsten Unterschied wahrgenommen. Bedeutungslose Umstände führten dazu, daß Philipp II. August mit der übrigen Normandie nicht auch diese Inseln einnahm. Seit annähernd siebenhundert Jahren voneinander getrennt, sind die beiden Bevölkerungen einander nicht nur fremd geworden, sondern völlig unähnlich. Die Rasse ist also in unserem Verständnis etwas, was entsteht und wieder vergeht. Ihr Studium ist für den Gelehrten, der sich mit der Geschichte der Menschheit beschäftigt, von größter Bedeutung. Aber in der Politik hat die Rasse nichts zu suchen. Das instinktive Bewußtsein, das für die Zusammensetzung der Karte Europas gesorgt hat, hat die Rasse nicht berücksichtigt, und die ersten Nationen Europas sind Nationen von gemischtem Blut.
Die Gegebenheiten der Rasse, entscheidend am Anfang, verlieren also immer mehr an Bedeutung. Die Menschengeschichte ist von der Zoologie wesentlich verschieden. In ihr ist die Rasse nicht alles, wie bei den Katzen und Nagetieren, und man hat nicht das Recht, in der Welt herumzugehen und die Schädel der Leute zu messen, um sie dann bei der Gurgel zu packen und ihnen zu sagen: "Du bist unser Blut. Du gehörst zu uns!" Jenseits der anthropologischen Merkmale gibt es die Vernunft, die Gerechtigkeit, das Wahre und das Schöne, die für alle dieselben sind. Bedenken Sie, diese ethnographische Politik ist nicht verläßlich. Heute setzt ihr sie gegen die anderen ein; später werdet ihr erleben, wie sie sich gegen euch selbst kehrt. Ist es sicher, daß die Deutschen, die die Flagge der Ethnographie so hoch gehißt haben, nicht eines Tages erleben werden, wie die Slawen ihrerseits die Dorfnamen Sachsens und der Lausitz erforschen, die Spuren der Wilzen und der Obodriten erkunden und Rechenschaft für die Gemetzel und massenhaften Verkäufe fordern, die ihren Ahnen von den Otonen angetan wurden? Es ist für alle gut, vergessen zu können. Ich liebe die Ethnographie, sie ist eine Wissenschaft von seltenem Wert. Aber da ich wünsche, daß sie frei ist, möchte ich, daß sie ohne politische Anwendung bleibt. Wie in allen Disziplinen wechseln die Systeme auch in der Ethnographie; das ist die Voraussetzung des Fortschritts. Die Grenzen des Staates würden den Fluktuationen der Wissenschaft folgen. Der Patriotismus würde von einer mehr oder weniger paradoxen Abhandlung abhängen. Man würde zum Patrioten sagen: "Sie täuschen sich; Sie wollen Ihr Blut für diese Sache da vergießen; Sie glauben, Kelte zu sein, aber nein, Sie sind Germane." Zehn Jahre später wird man Ihnen dann sagen, daß Sie Slawe sind. Um die Wissenschaft nicht zu verfälschen, wollen wir sie davon entbinden, uns in diesen Fragen, in die so viele Interessen hineinspielen, Rat zu erteilen. Seien sie dessen gewiß: Wenn man ihr aufträgt, die Elemente der Diplomatie bereitzustellen, wird man sie oft genug bei einer Gefälligkeit ertappen. Sie hat Besseres zu tun - verlangen wir von ihr ganz einfach die Wahrheit.
- Was wir von der Rasse gesagt haben, müssen wir auch von der Sprache sagen. Die Sprache lädt dazu ein, sich zu vereinen; sie zwingt nicht dazu. Die Vereinigten Staaten und England, das spanische Amerika und Spanien sprechen dieselbe Sprache und bilden doch keine Nation. Im Gegenteil, die Schweiz, die so wohlgelungen ist, weil sie durch Übereinkunft ihrer verschiedenen Teile entstand, zählt drei oder vier Sprachen. Beim Menschen gibt es etwas, was der Sprache übergeordnet ist: den Willen. Der Wille der Schweiz, trotz der Vielfalt der Idiome geeint zu sein, ist eine viel wichtigere Tatsache als eine oft unter Quälereien erlangte Ähnlichkeit.
Die Tatsache, daß Frankreich niemals versucht hat, die Einheit der Sprache mit Zwangsmaßnahmen durchzusetzen, ehrt es. Kann man nicht in verschiedenen Sprachen dieselben Gefühle und dieselben Gedanken haben, dieselben Dinge lieben? Wir sprachen soeben davon, wie unzuträglich es wäre, wenn man die internationale Politik von der Ethnographie abhängig machen würde. Nicht weniger unpassend wäre es, wenn man die Politik von der vergleichenden Sprachwissenschaft abhängig machte. Lassen wir diesen interessanten Forschungen ihre ganze Freiheit, mischen wir nichts hinein, was ihre Heiterkeit beeinträchtigen würde. Die politische Bedeutung, die man den Sprachen beimißt, ergibt sich daraus, daß man sie als Zeichen der Rasse ansieht. Nichts falscher als das! In Preußen, wo heute nur noch deutsch gesprochen wird, sprach man noch vor ein paar Jahrhunderten slawisch; das Land der Gallier spricht englisch; Gallien und Spanien sprechen das ursprüngliche Idiom von Alba Longa; Ägypten spricht arabisch - die Beispiele sind nicht zu zählen. Sogar in den Anfängen zog das keine Ähnlichkeit der Rasse nach sich. Nehmen wir den proto-arischen oder proto-semitischen Stamm. Es gab dort Sklaven, die dieselbe Sprache sprachen wie ihre Herren. Aber oft war der Sklave auch von anderer Rasse als sein Herr. Sagen wir es noch einmal: Die Grenzen der indo-europäischen, der semitischen und der anderen Sprachen, die mit so bewundernswertem Scharfsinn von der vergleichenden Sprachwissenschaft festgelegt worden sind, decken sich nicht mit den Einteilungen der Anthropologie. Die Sprachen sind historische Gebilde, die wenig über das Blut derer aussagen, die sie sprechen. Jedenfalls sollten sie die menschliche Freiheit nicht fesseln, wenn es die Familie zu bestimmen gilt, mit der man sich auf Leben oder Tod vereint.
Die ausschließliche Berücksichtigung der Sprache hat, ebenso wie die zu starke Betonung der Rasse, ihre Gefahren und Unzuträglichkeiten. Wenn man zu viel Wert auf die Sprache legt, schließt man sich in einer bestimmten, für national gehaltenen Kultur ein; man begrenzt sich. Man verläßt die freie Luft, die man in der Weite der Menschheit atmet, um sich in die Konventikel seiner Mitbürger zurückzuziehen. Nichts ist schlimmer für den Geist, nichts schlimmer für die Zivilisation. Geben wir das Grundprinzip nicht auf, daß der Mensch ein vernünftiges und moralisches Wesen ist, ehe er sich in diese oder jener Sprache einpfercht, ein Angehöriger diese oder jener Rasse, ein Mitglied dieser oder jener Kultur. Ehe es die französische, deutsche, italienische Kultur gab, gab es die menschliche Kultur. Die großen Menschen der Renaissance waren weder Franzosen noch Italiener noch Deutsche. Durch ihren Umgang mit der Antike hatten sie das wahre Geheimnis des menschlichen Geistes wiedergefunden, und ihm gaben sie sich mit Leib und Seele hin. Wie gut sie daran taten.
- Auch die Religion kann uns keine hinreichende Grundlage geben, um darauf eine moderne Nation zu errichten. Am Anfang hing die Religion mit der Existenz der sozialen Gruppe selbst zusammen. Diese war eine Ausdehnung der Familie. Die Religion, die Riten waren die Riten der Familie. Die Religion Athens war der Kult von Athen selbst, seiner mythischen Gründer, seiner Gesetze und Bräuche. Sei schloß keinerlei dogmatische Theologie ein. Diese Religion war im strengsten Sinne des Wortes eine Staatsreligion. Man war kein Athener, wenn man es ablehnte, die Religion zu praktizieren. Im Grunde war es der Kult der personifizierten Akropolis. Schwor man am Altar der Aglauros, so leistete man den Eid, für das Vaterland zu sterben. Diese Religion war eine Entsprechung zu dem, was bei uns das Werfen des Loses oder der Kult der Fahne sind. Weigerte man sich, an einem solchen Kult teilzunehmen, so entsprach das der Verweigerung des Wehrdienstes in unseren modernen Gesellschaften. Man erklärte damit, daß man kein Athener war. Auf der anderen Seite versteht es sich, daß ein solcher Kult für jemanden, der nicht aus Athen war, keinerlei Bedeutung hatte. Man betrieb auch keine Anwerbung, um Fremde dazu zu bewegen, diesen Kult anzunehmen, und auch die athenischen Sklaven praktizierten ihn nicht. So war es auch in einigen kleinen Republiken des Mittelalters. Man war kein guter Venezianer, wenn man nicht den Eid auf den heiligen Markus leistete. Man war kein guter Bürger von Amalfi, wenn man nicht den heiligen Andreas über alle anderen Heiligen des Paradieses erhob. Was später Verfolgung, Tyrannei war, war in diesen kleinen Gesellschaften legitim und blieb so folgenlos wie bei uns die Tatsache, daß wir am ersten Tag des Jahres die guten Wünsche an den Familienvater richten.
Was in Sparta und Athen galt, war schon in den aus der Eroberung Alexanders hervorgegangenen Reichen nicht mehr wahr und erst recht nicht im Römischen Reich. Die Verfolgungen des Antiochos Epiphanes, die den Orient dem Kult des olympischen Jupiter zuführen sollten, ebenso wie die des Römischen Reiches, um eine vorgebliche Staatsreligion zu bewahren, waren ein Fehler, ein Verbrechen, ein wahrhafter Widersinn. Heutzutage ist die Situation vollkommen klar. Es gibt keine Masse von Gläubigen mehr, die auf einförmige Weise glaubt. Jeder glaubt und praktiziert nach seinem Gutdünken, wie er kann, wie er mag. Es gibt keine Staatsreligion mehr, man kann Franzose, Engländer, Deutscher sein und dabei Katholik, Protestant, Israelit oder gar keinen Kult praktizieren. Die Religion ist eine individuelle Angelegenheit geworden, sie geht nur das Gewissen eines jeden an. Die Unterteilung der Nationen in katholische oder protestantische existiert nicht mehr. Die Religion, die noch vor fünfzig Jahren eine so bedeutende Rolle bei der Entstehung Belgiens spielte, hat ihre ganze Bedeutung nur noch im Innern jedes einzelnen behalten. Sie hat sich fast gänzlich von den Gründen gelöst, nach denen die Grenzen der Völker gezogen werden.
- Die Gemeinschaft der Interessen ist sicherlich ein starkes Band zwischen den Menschen. Doch reichen die Interessen aus, um eine Nation zu bilden? Ich glaube es nicht. Die Gemeinschaft der Interessen schließt die Handelsverträge. Die Nationalität jedoch hat eine Gefühlsseite, sie ist Seele und Körper zugleich. Ein "Zollverein" ist kein Vaterland.
- Die Geographie - was man die "natürlichen Grenzen" nennt - hat fraglos einen großen Anteil an der Einteilung der Nationen. Sie ist einer der wesentlichen Faktoren der Geschichte. Die Flüsse haben die Rassen geführt, die Berge haben sie behindert. Jene haben die historischen Bewegungen begünstigt, diese haben sie aufgehalten. Kann man aber glauben, wie es einige Parteien tun, daß die Grenzen einer Nation auf der Karte eingetragen sind und daß eine Nation das Recht hat, sich das Nötigste anzueignen, um gewisse Konturen zu begradigen, an dieses Gebirge zu reichen, an jenen Fluß, dem man a priori so etwas wie eine begrenzende Kraft zuspricht? Ich kenne keine willkürlichere, keine verhängnisvollere Theorie. Mit ihr kann man jede Gewalt rechtfertigen. Vor allem, sind es diese Berge, sind es diese Flüsse, die die angeblichen natürlichen Grenzen bilden? Unbestreitbar ist, daß die Gebirge trennen und die Flüsse eher einen. Aber nicht alle Gebirge grenzen Staaten voneinander ab. Welche trennen, und welche tun es nicht? Von Biarritz bis nach Tornea gibt es nicht eine Flußmündung, die nicht die eine oder andere abgrenzende Eigenschaft hätte. Wenn die Geschichte gewollt hätte, hätten Loire, Seine, Maas, Elbe, Oder nicht anders als der Rhein diese abgrenzende Eigenschaft gehabt, die zu so vielen Verletzungen jenes fundamentalen Rechts geführt hat, welches der Wille des Menschen ist. Man spricht von strategischen Gründen. Nichts ist absolut; es ist klar, daß der Notwendigkeit manche Konzessionen zu machen sind. Aber diese Konzessionen dürfen nicht zu weit gehen. Sonst würde alle Welt ihre militärischen Wünsche geltend machen, und es wäre Krieg ohne Ende. Nein, es ist auch nicht wie der Boden, der die Nation macht. ebensowenig wie die Rasse. Die Erde liefert das Substrat, den Boden für Kampf und Arbeit, der Mensch liefert die Seele. Bei der Formung dieser geheiligten Sache, die man ein Volk nennt, ist der Mensch alles. Nichts Materielles ist dafür hinreichend. Eine Nation ist ein geistiges Prinzip, das aus tiefen Verwicklungen der Geschichte resultiert, eine spirituelle Familie, nicht eine von Gestaltungen des Bodens bestimmte Gruppe.
Wir haben gesehen, daß es nicht genügt, ein solches geistiges Prinzip zu schaffen: die Rasse, die Sprache, die Interessen, die religiöse Verwandtschaft, die Geographie, die militärischen Notwendigkeiten. Was also braucht es mehr? Nach dem bisher Gesagten brauche ich Ihre Aufmerksamkeit nicht mehr lange in Anspruch zu nehmen.
III.
Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Eines davon gehört der Vergangenheit an, das andere der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten, welches man ungeteilt empfangen hat. Der Mensch improvisiert sich nicht. Wie der einzelne ist die Nation der Endpunkt einer langen Vergangenheit von Anstrengungen, von Opfern und von Hingabe. Der Kult der Ahnen ist von allen am legitimsten; die Ahnen haben uns zu dem gemacht, was wir sind. eine heroische Vergangenheit, große Männer, Ruhm (ich meine den wahren) - das ist das soziale Kapital, worauf man eine nationale Idee gründet. Gemeinsamer Ruhm in der Vergangenheit, ein gemeinsames Wollen in der Gegenwart, gemeinsam Großes vollbracht zu haben und es noch vollbringen wollen - das sind die wesentlichen Voraussetzungen, um ein Volk zu sein. Man liebt - im rechten Verhältnis - Opfer, in welche man eingewilligt, Übel, die man erlitten hat. Man liebt das Haus, das man gebaut hat und das man vererbt. Das spartanische Lied: "Wir sind, was ihr gewesen seid; wir werden sein, was ihr seid", ist in seiner Einfachheit die abgekürzte Hymne jedes Vaterlandes.
In der Vergangenheit ein gemeinschaftliches Erbe von Ruhm und von Reue, in der Zukunft ein gleiches Programm verwirklichen, gemeinsam gelitten, sich gefreut, gehofft haben - das ist mehr wert als gemeinsame Zölle und Grenzen, die strategischen Vorstellungen entsprechen. Das ist es, was man ungeachtet der Unterschiede von Rasse und Sprache versteht. Ich habe soeben gesagt: "Gemeinsam gelitten haben". Ja, das gemeinsame Leiden eint mehr als die Freude. Die nationalen Erinnerungen und die Trauer wiegen mehr als die Triumphe, denn sie erlegen Pflichten auf, sie gebieten gemeinschaftliche Anstrengungen.
Eine Nation ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist. Sie setzt eine Vergangenheit voraus, aber trotzdem faßt sie sich in der Gegenwart in einem greifbaren Faktum zusammen: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Das Dasein einer Nation ist - erlauben Sie mir dieses Bild - ein täglicher Plebiszit, wie das Dasein des einzelnen einen andauernde Behauptung des Lebens ist. Ich weiß sehr wohl, daß dies weniger metaphysisch ist als das göttliche Recht, weniger brutal als das angebliche historische Recht. In der Ordnung der Ideen, die ich hier vortrage, hat eine Nation nicht mehr Recht als ein König, zu einer Provinz zu sagen: "Du gehörst mir, ich nehme dich." Eine Provinz, das sind für uns ihre Einwohner. Wenn in dieser Frage jemand das Recht hat, gehört zu werden, dann sind es diese Einwohner. Niemals hat eine Nation ein echtes Interesse, ein Land gegen seinen Willen zu annektieren oder zu behalten. Der Wunsch der Nationen ist ein für allemal das einzige legitime Kriterium, auf das immer zurückgegangen werden muß.
Wir haben die metaphysischen und theologischen Abstraktionen aus der Politik vertrieben. Was bleibt noch? Es bleibt der Mensch, seine Wünsche, seine Bedürfnisse. Man wird einwenden, daß die Sezessionen und, auf lange Sicht, das Zerbröseln der Nationen die Konsequenzen eines Systems sein werden, das diese alten Organismen auf Gedeih und Verderb einem Willen ausliefert, der oft wenig aufgeklärt ist. Es versteht sich, daß in solchen Dingen kein Prinzip bis zum Extrem getrieben werden darf. Die Wahrheiten dieser Ordnung sind nur insgesamt und in einer sehr allgemeinen Weise anwendbar. Das Wollen der Menschen ändert sich, aber was ändert sich hienieden nicht? Die Nationen sind nichts Ewiges. Sie haben einmal angefangen, sie werden enden. Die europäische Konföderation wird sie wahrscheinlich ablösen. Aber das ist nicht das Gesetz des Jahrhunderts, in dem wir leben. Gegenwärtig ist die Existenz der Nationen gut, sogar notwendig. Ihre Existenz ist die Garantie der Freiheit, die verloren wäre, wenn die Welt nur ein einziges Gesetz und einen einzigen Herrn hätte.
Mit ihren verschiedenen Fähigkeiten, die einander oft entgegengesetzt sind, dienen die Nationen dem gemeinsamen Werk der Zivilisation. Alle tragen zu dem großen Konzert der Menschheit eine Note bei, das, als Ganzes, die höchste ideale Realität ist, an die wir heranreichen. Voneinander isoliert, haben sie nur schwache Partien. Oft sage ich mir, daß ein einzelner, der die Fehler hätte, die man bei den Nationen für Qualitäten hält, der sich von eitlem Ruhm nährte, der darin eifersüchtig, egoistisch und streitsüchtig wäre, der nichts unterstützen könnte, ohne gleich blankzuziehen - daß ein solcher Mensch der Unerträglichste unter den Menschen wäre. Doch alle diese Dissonanzen im einzelnen verschwinden im ganzen. Arme Menschheit, was hast du gelitten, welche Prüfungen warten noch auf dich! Würde doch der Geist der Weisheit dich leiten, um dich vor den zahllosen Gefahren zu bewahren, mit denen dein Weg übersät ist!
Ich fasse zusammen. Der Mensch ist weder der Sklave seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Religion noch des Laufs der Flüsse oder der Richtung der Gebirgsketten. Eine große Ansammlung von Menschen, gesunden Geistes und warmen Herzens, erschafft ein Moralbewußtsein, welches sich eine Nation nennt. In dem Maße, wie dieses Moralbewußtsein seine Kraft beweist durch die Opfer, die der Verzicht des einzelnen zugunsten der Gemeinschaft fordert, ist die Nation legitim, hat sie ein Recht zu existieren. Wenn sich Zweifel an ihren Grenzen erheben, dann soll die Bevölkerung befragt werden. Sie hat durchaus ein Recht auf ein Urteil darüber. Das werden diejenigen vielleicht belächeln, die über der Politik stehen, diese Unfehlbaren, die ihr Leben damit zubringen, sich zu täuschen, und die von der Höhe ihrer erhabenen Prinzipien mitleidig auf unsere Bodenständigkeit herabsehen. "Das Volk befragen, welche Naivität! Das sind jene schwächlichen französischen Ideen, die die Diplomatie und den Krieg durch eine kindliche Einfachheit ersetzen wollen." Warten wir es ab, lassen wir die Herrschaft dieser Metapolitiker vorübergehen, ertragen wir die Geringschätzung der Starken. Vielleicht wird man, nach fruchtlosen Versuchen, auf unsere maßvollen empirischen Lösungen zurückkommen. Wenn man in der Zukunft recht behalten will, dann muß man sich manchmal damit abfinden, daß man aus der Mode ist.
Vortrag in der Sorbonne am 11. März 1882 von ERNEST RENAN
Aus dem Französischen von Henning Ritter, veröffentlicht in: Jeismann, Michael / Ritter, Henning: Grenzfälle - Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig 1993
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